Letzte Aktualisierung am 9. Dezember 2023 von Dr. Michael Zechmann-Khreis
Vor allem in Verbindung mit „Darmfloraanalysen“ und IgG4-Nahrungsmittelunverträglichkeitstests hört man immer wieder vom Leaky Gut-Syndrom. Was dahinter steckt und ob so ein löchriger Darm wirklich existiert, klären wir in diesem Artikel auf. Wir haben auch einen Blogbeitrag zum Thema „Löchriger Darm“. Dort erfährst du alles wichtige kurz und knapp.
Der Begriff „leaky gut“ kommt aus der englischsprachigen Fachliteratur und bedeutet „durchlässiger Darm“ bzw. im deutschsprachigen Fachjargon „intestinale Permeabilität“. Das ist etwas anderes, als der im deutschen Sprachraum postulierte alternativmedizinische „Leaky Gut „.
Inhaltsverzeichnis
Leaky Gut: Schuld an allem?
Die Idee des alternativmedizinischen Konzepts: Der Darm verliert durch unterschiedliche Einflüsse wie Parasiten, Infektionen, Stress, Zucker, Gluten oder Medikamente seine Barrierefunktion. Schadstoffe wie Mikroben, Gifte oder Nahrungsbestandteile dringen deshalb in den Körper ein. Die Immunabwehr löst in weiterer Folge verschiedene Krankheiten und Symptome aus. Dazu zählt man Allergien, Fettleibigkeit, Krebs, Diabetes, Schilddrüsenunterfunktion, Schilddrüsenüberfunktion, Gelenksschmerzen, Autismus, chronische Müdigkeit oder eben auch Nahrungsmittelintoleranzen und Allergien.
Fakt oder Geschäftemacherei?
Auf den ersten Blick mag das nachvollziehbar, wenn auch etwas verwunderlich klingen. Denn wann immer eine einzige Ursache derart viele unterschiedliche Krankheiten auslösen soll, ist Vorsicht geboten. Und tatsächlich ist das „Leaky Gut Syndrom“ in dieser Form pure Fantasie. Die meisten Anbieter die diese Krankheit propagieren, offerieren meist auch gleich Diagnoseverfahren, Bücher, Präparate, Onlinekurse und natürlich auch Behandlungen. Leider gibt es auch viele selbsternannte Expert*innen in Social-Media-Gruppen, die ohne medizinische Ausbildung Beratungen durchführen und oft falsche Informationen verbreiten.
Das Problem mit dem Leaky Gut Syndrom ist folgendes: Hier werden verschiedene medizinisch korrekte Fakten des leaky gut der Fachliteratur und wissenschaftlich noch nicht verstandene physiologische Vorgänge zu neuen Theorien verwoben. Man „beweist“ diese Theorien dann gerne mit Hinweisen auf wissenschaftliche Studien in denen der begriff „leaky gut syndrom“ vorkommt. Bei genauerem Hinschauen sagen aber diese Studien etwas völlig anderes aus oder haben gar nichts mit der Thematik zu tun. Mit ein paar über das Internet verbreiteten Heilungsgeschichten ist die Theorie für viele Patient*innen glaubwürdig genug und man kann beginnen, Geschäfte zu machen.
Leaky Gut: Eine Spurensuche
Bevor wir die Frage klären können, ob es das postulierte Leaky Gut Syndrom gibt, müssen wir uns den Darm und sein Mikrobiom genauer anschauen.
Aufbau der Darmwand
Sogenannte Epithelgewebe fungieren bei Lebewesen als Barrieren. Gleichzeitig findet aber auch ein selektiver Transport durch diese Gewebe statt. Lebewesen sind nun mal nicht von der Umwelt abgetrennt, sondern mit ihr im Austausch. Unsere oberste Hautschicht ist so ein Epithelgewebe, aber auch unser Darm.
Die Epithelzellen des Darms bilden dabei eine sehr große und komplexe Oberfläche, müssen sie doch lebensnotwendige Nährstoffe aus der Nahrung aufnehmen. Zeitgleich müssen sie schädliche Stoffe fernhalten. Sie haben hierfür einzigartige und hoch komplexe Funktionen entwickelt.
Die Darmwand besteht vereinfacht gesagt aus dem Epithelgewebe und einer sehr speziellen „Wasserschicht“, vielen Proteinen und Muskeln. Die Zellverbände der Darmwand sind dabei nicht statisch, der Darm ist eben kein Gartenschlauch, sondern extrem variabel. Sie verändern sich ständig. Die Darmbarriere muss man sich als in sich bewegliche Barriere vorstellen, die mit unzähligen, unterschiedlichen Stoffen und Reizen umgehen muss. Und ja, der Darm ist durchlässig. Das muss er auch sein, sonst könnte er ja seine Aufgabe, die Aufnahme von Nährstoffen, gar nicht bewerkstelligen.
Durchlässigkeit des Darms
Diese Durchlässigkeit des Darms ist stark abhängig vom Darmabschnitt. Der Dünndarm (in dem weniger Mikroben leben) ist stärker durchlässig als der Dickdarm (in dem viele Mikroben sind). Die Bakterien (eigentlich Mikrobiota) interagieren mit einer Schicht der Darmwand, die selbst eigentlich aus zwei Schichten besteht: einer dünnen inneren und einer dicken äußeren. In der äußeren Schicht, die Kontakt zum Nahrungsbrei hat, halten sich die Bakterien vermehrt auf. In der inneren sind sie kaum anzutreffen. Diese Region im Darm bildet sozusagen das Wohnzimmer der Bakterien und ist zeitgleich eine Barriere zwischen ihnen und uns. Die Mikroben, egal ob pathogen oder freundlich, werden dadurch daran gehindert sich am Epithel anzuheften oder gar in den Körper einzudringen.
Schädigung des Gleichgewichtes
Nun kann es vorkommen, dass diese Homöostase, also das Gleichgewicht, gestört ist. Durch genetische Faktoren oder durch externe Faktoren wie Medikamente, dauerhaft ungesunde Ernährung oder schwerwiegende Krankheiten verringert sich diese Barriere, gerät das Gleichgewicht aus den Fugen. Es wird auch vermutet, dass die Arten der vorherrschenden Bakterien Einfluss auf die Barriere hat. Durch komplexe physiologische Prozesse werden die sogenannten „Tight Junctions“, also die Verbindungen zwischen den Zellen, gelockert. Pathogene Keime und kleinere Moleküle können dann, da die Barriere fehlt und die Zellzwischenräume nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren, vereinzelt in den Körper eindringen. Hier lösen sie dann z.B. Entzündungen bzw. Immunantworten aus. Diesen Zustand nennt man in der Wissenschaft „leaky gut“, manchmal auch „leaky gut syndrome“ oder einfach erhöhte Darmpermeabilität. Die Reaktion auf eindringende Bakterien ist übrigens die normale Reaktion des Körpers auf eindringende Fremdstoffe und noch kein „Syndrom“.
Welche Fragen sind noch offen, welche Antworten kennen wir?
Stand: Dezember 2023
- Wir wissen nicht, ob Leaky Gut (der wissenschaftlich fundierte Typ) und Dysbiose Ursache oder Folge von Autoimmunerkrankungen sind.
- Der beim alternativmedizinischen Konzept gemachte Vergleich mit einem löchrigen Gartenschlauch ist falsch und irreführend.
- Das Darmmikrobiom (also die Darmflora) hat einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit. Genau Details kennen wir noch nicht. Das heißt Interventionen mit Darmfloraanalysen und Zuführung einzelner Bakterienstämme ist aus heutiger Sicht nicht zu empfehlen. Besser sind laut Empfehlungen der Fachgesellschaften: gesunde Vollwerternährung sowie ausreichend Bewegung.
- Es sollte im Darm ein Gleichgewicht herrschen. Dieses lässt sich am besten durch einen gesunden Lebensstil und Vollwerternährung bewahren bzw. erreichen.
- Das Gelichgewicht kann durch schwere Krankheiten oder Darm-Operationen gestört werden.
- Bei Reizdarmsyndrom, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und Zöliakie gibt es tatsächlich Probleme mit der Darmbarriere oder einer Komponente der Darmbarriere. Das nennt die wissenschaft „leaky gut“ oder erhöhte intestinale Permeabilität.
- Vermehrte Darmdurchlässigkeit ist nicht notwendigerweise schädlich. Unser Körper ist auf diese Eventualitäten gut eingestellt. Erst eine Summe an Faktoren, z.B. Übergewicht, Stress, Dysbiose und andere Probleme, führen dann zu Symptomen oder gesundheitlichen Einbußen.
- Die „Löcher“ zwischen den Epithelzellen (die völlig normal sind), sind selbst im schlimmsten Fall viel zu klein, um größere Moleküle, geschweige denn Nahrungsbestandteile durchzulassen. Heute wissen wir, dass gewisse Bakterien durch diese gelockerte Barriere durchdringen können.
Gibt es nun das Leaky Gut Syndrom oder nicht?
Das „Leaky Gut-Syndrom“ als eigenständiges Syndrom zu definieren, das z.B. durch unsere moderne Ernährungsweise hervorgerufen wird und für eine Vielzahl an Zivilisationskrankheiten verantwortlich und über simple Bluttests zu diagnostizieren ist, ist sicher nicht richtig. Es fehlt hierfür jeglicher wissenschaftlicher Nachweis und das postulierte Modell dahinter ist voller medizinischer und physiologischer Fehlannahmen. Das große finanzielle Interesse am Verkauf von „Heilmitteln“ und Diagnoseverfahren für das Leaky Gut Syndrom ist hoch und sollte jede*n Patient*in daran erinnern, kritisch zu bleiben.
Wir wissen heute, dass es eine Vielzahl an Gründen gibt, egal ob Fettleibigkeit, Insulinresistenz, Stress oder andere Faktoren, die zu Problemen im Darm führen oder Folge von Problemen im Darm sind. Da dies sehr komplex ist und wir noch nicht genug darüber wissen, ist eine gute gesamtheitliche ärztliche Abklärung wichtig.
Dass ein gesunder und gut funktionierender Darm wichtig für unser Wohlbefinden ist, das steht außer Frage. Doch sollten Patient*innen mit Verdauungsproblemen besser eine gute Diagnostik durchlaufen, bevor sie sich selbst ein alternativmedizinisches Syndrom diagnostizieren, das es in dieser Form gar nicht gibt.
Quellen
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Erste Fassung: Mai 2019, seither neue Erkenntnisse.