Seit über 10 Jahren beschäftige ich mich als Wissenschafter und Autor mit dem Thema Nahrungsmittel-Intoleranzen. Viel ist in dieser Zeit passiert, viel hat sich geändert, einiges verbessert. Doch eine Konstante gibt es: Menschen, die induktiv denken. Im Folgenden ein paar Gedanken dazu, ohne Anspruch auf philosophische Vollständigkeit
In der Philosophie gibt es zwei Wege zu einem Schluss zu kommen: Induktion und Deduktion. Bei der Deduktion schließt man von vielen Beobachtungen auf einen Einzelfall. Bei der Induktion schließt man von einem einzigen Fall auf die Allgemeinheit. Das heißt: Ich sehe einen grünen Apfel und schließe daraus: Alle Äpfel sind grün. Nun wissen wir aber, dass es auch rote, gelbe oder mehrfärbige Äpfel gibt. Der induktive Schluss ist also falsch.
In der Philosophie diskutierten schon viele helle Köpfe wie Popper, Hume oder Rudolf Carnap das Induktiv/Deduktiv-Problem. Ihre Lösung: Es ist besser, deduktiv zu schließen:
Ein grüner Apfel alleine heißt nicht, dass alle Äpfel grün sind. Sehe ich im Laufe meines Lebens ausschließlich grüne Äpfel und gibt es keinerlei Anzeichen für eine andere Sorte, kann ich deduktiv schließen, dass alle Äpfel grün sind. Damit werde ich wahrscheinlich ganz gut leben. Erst wenn ein roter Apfel auftaucht, muss ich umdenken und meine Schlussfolgerung stimmt nicht mehr. Ich muss sie reduzieren und sagen: Die meisten Äpfel in meiner Umgebung sind grün, es gibt aber auch andere.
Wir sehen: Weder Induktion noch Deduktion bringen mir Sicherheit. Aber ich habe durch Deduktion größere Chancen, allgemein gültige Sätze zu formulieren.
Was hat das mit NMI zu tun?
Ich bekomme immer wieder E-Mails von erbosten Menschen, die mir erklären, ich hätte keine Ahnung, wovon ich rede. Es gibt Personen, die auf Wikipedia, Amazon oder anderen Seiten über meine Bücher oder über diese Webseite schimpfen. Und fast immer ist dabei induktives Denken beteiligt. Einige Beispiele aus den letzten Jahren (Rechtschreibfehler übernommen):
„Ich habe histaminfreie Weine ausprobiert, ich habe den Wein nicht vertragen. Wieso behaupten Sie, dass es histaminfreie Weine gibt, wenn ich es nicht vertarge? Behaupten sie doch nicht solche Sachen, das ist eine Schande “
„Sie verwenden in Ihrem Buch bei allen möglichen Rezepten Knoblauch. Nun weiß doch jeder, dass Knoblauch bei Fruktoseintoleranz nicht verträglich ist. Ich brauche nur eine halbe Knolle zu essen und schon bekomme ich Symptome. Ihr Buch verbreitet absoluten Unsinn und Sie haben wohl keinerlei Nährwertkenntnisse.“
„Auf Ihrer Seite steht, laktosefreie Milch sei bei Laktoseintoleranz verträglich. Das stimmt nicht. Ich habe Laktoseintoleranz und ich vertrage sie nicht. Bitte ändern Sie das auf Ihrer Seite, damit nicht andere Menschen auch darauf hereinfallen.“
In allen Beispielen sieht man sofort: induktives Denken. Wenn ICH etwas nicht vertrage, dann verträgt es KEINER! Dabei ist es den Schreibern egal, dass wir in unserem Buch niemals eine halbe Knolle Knoblauch, sondern maximal eine kleine Zehe verwenden (immer mit dem Hinweis „nur wer es verträgt“), oder dass zum Beispiel Millionen Betroffene seit vielen Jahren laktosefreie Milch bestens vertragen. Aber wenn ich es nicht vertrage, verträgt es eben keiner. So ist das, damit müssen die anderen Millionen nun einfach leben.
Ich werde solche Mails sicher weiterhin bekommen und ich werde sie, wie bisher auch, ignorieren bzw. für solche Blogs sammeln. Was mir aber wichtig ist: Induktives Denken ist zutiefst menschlich, jeder von uns denkt so. Das induktive Denken schützt uns. Würden wir nicht induktiv denken, wäre das Überleben schwierig. Wenn ein Tiger in der Wildnis gefährlich ist, dann sollte ich mich vor allen Tigern fürchten, besser noch: Vor allen Tieren die ähnlich ausschauen wie ein Tiger. Ja, dieses induktive Denken hilft dem Überleben.
Aber wir sind gebildete und intelligente Wesen und können auch anders. Wir wissen um die Problematik des induktiven Denkens und wir können über eigene Überlegungen und Gedanken reflektieren, bevor wir sie (im Internet) kundtun. ICH vertrage keine laktosefreie Milch, Millionen andere schon. Warum? Vielleicht habe ich zusätzlich eine Milchallergie? Vielleicht kommen die Symptome von anderen Lebensmitteln? Aber sollte ich nun wirklich im Netz darüber schreiben, dass niemand laktosefreie Milch vertragen kann, weil ICH sie nicht vertrage?
Mir ist schon klar, dass sich die angesprochenen Personen wegen dieses Eintrags nicht ändern werden, aber vielleicht hilft es uns allen, wenn es um Ernährung geht, mal darüber nachzudenken, inwieweit das eigene Ernährungsverhalten eine Allgemeingültigkeit hat, bzw. inwieweit allgemeine Ernährungsrichtlinien nicht immer auf alle zutreffen.
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