Als ich vor über 10 Jahren damit begann, das nmi-Portal aufzubauen, tauchte erstmals der Begriff „Dr. Google“ auf. Dr. Google zu befragen bedeutete, dass man ein paar seiner Symptome googelt und dann auf alle möglichen Webseiten stößt, die dazu passende Krankheiten auflisten. Und je tiefer man sich in diese Websuche vertiefte, desto schwerwiegender wurde die Krankheit. Und so endeten gefühlte 100% der Suchen nach „Magenschmerzen“ oder „Halsschmerzen“ mit der „Diagnose“: Krebs. Tödlicher Krebs.
Dann kam eine Zeit, in der die Menschen begannen diesen Mechanismus zu hinterfragen. Man googelte zwar noch nach den Symptomen, hörte aber bald auf oder achtete auf Zertifizierungen von Webseiten, wie dem HON-Code (Das nmi-Portal ist z.B. durch diesen Code zertifiziert). Man wurde skeptischer und glaubte nicht mehr jede Krebs-Selbstdiagnose. Doch dann kam der blaue Riese: Facebook.
Dr. Google ist tot, es lebe Dr. Facebook
Seit geraumer Zeit googelt man also nicht mehr nach den Symptomen, sondern beschreibt und diskutiert sie in Facebook-Foren. Dort postet man nicht nur den eigenen Darmfloracheck samt höchst sensiblen Daten wie Name, Geburtsdatum und Wohnadresse, sondern auch ärztliche Atteste, Laborergebnisse und Blutwerte. So weit, so (datenschutzrechtlich) problematisch. Doch das eigentliche Spiel beginnt erst: Denn nun beginnen die FacebookuserInnen diese Daten zu analysieren. Sie geben Medikamententipps, werfen Diagnosen in den Raum, erklären Werte (oft falsch) und raten z.B. zu bestimmten Medikamenten.
Dr. Google wurde also von Dr. Facebook abgelöst. Gut, man könnte sagen, es sind ja echte Menschen, nicht Webseiten die einem was verkaufen wollen. Echte Menschen vertraut man mehr als unpersönlichen Webseiten. Ja. Sicher. Ich bin ja selbst Biologe und seit vielen Jahren im Marketing tätig und weiß, wir sind soziale Lebewesen und vertrauen anderen Individuen blind. Wenn das nicht so wäre, wären wir schon ausgestorben. Wir haben auch etwas, das man Ratio nennt. Also die Fähigkeit nachzudenken, wir haben Vernunft. Diese Fähigkeit schalten wir bei der Konsultation von Dr. Facebook aber leider aus.
Wen frage ich da eigentlich?
Wer sind denn diese anderen Individuen, die mir da Ratschläge geben? Kennen die sich wirklich aus? Sind sie medizinisch (aus)gebildet? Ich habe mir das immer wieder in den letzten Monaten genauer angeschaut.
Ein Beispiel:
Ein Darmcheck wurde gepostet, gleich danach schrieb eine Dame dazu, dass das Ganze nach Leaky Gut aussehe, L-Glutamin „einschleichend“ eingenommen werden müsse und dass ein Medikament gegen zu viel Magensäure genommen werden sollte. Ich habe mir diese Ratgeberin mal genauer angesehen. Ist ja dank Facebook nicht schwer. Sie hat eine Handelsakademie abgeschlossen und ist Verkäuferin in einem Kleidermodengeschäft.
Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Ich habe einen Automechaniker, eine Controllerin bei einem Handelsunternehmen und einen Landwirt gefunden, die munter in Facebookgruppen Diagnosen erstellten, Medikamente empfahlen und sogar dazu rieten, vom Arzt verordnete Medikamente nicht mehr zu nehmen. Zu den Diagnosen gehörten übrigens nicht nur so zweifelhafte Krankheiten wie Leaky Gut Syndrom , sondern auch reale und teilweise schwerwiegende Erkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Darmkrebs oder Nahrungsmittel-Allergien.
Betroffenen vertraut man eher als Ärzten
Nun werden einige einwenden: „Ja, aber das sind ja selbst Betroffene, die haben mehr Ahnung als die Ärzte.“ Ok. heißt das, wenn ein Landwirt mal am offenen Herzen operiert wurde, dann hat er als Betroffener mehr Ahnung als der Herzchirurg? Ich frage mich, wer von uns sich lieber vom Landwirt, als vom Arzt am offenen Herzen operieren ließe. Meine Entscheidung ist da ganz klar. Und das betrifft auch weniger plakative Beispiele wie Nahrungsmittel-Intoleranzen oder Schnupfen. Nur weil jemand betroffen ist, macht ihn das nicht zum Experten, der medizinisch beraten soll.
Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Betroffene sind wichtige Informationsgeber, keine Frage. Aber wir reden da von Koch-Rezepten, Tricks im täglichen Leben oder von einer psychischen Unterstützung um zu zeigen: Ich bin nicht alleine, es gibt noch andere. Aber wir reden definitiv nicht von medizinischen Ratschlägen!
Es gibt auch schlechte Ärzte
Ein Problem das hier immer wieder auftaucht ist, dass Ärzte tatsächlich keine Ahnung haben, den Patienten zu wenig erklären oder es so erklären, dass es niemand versteht. Unser Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt, aber es kostet viel Geld und es hat zur Folge, dass Ärzte nur sehr wenig Zeit pro Patient haben. Und nicht jeder, der Medizin studiert, ist zum Arzt geboren. Das ist ein echtes Problem. Und es ist mitverantwortlich dafür, dass das Phänomen Dr. Facebook so weit verbreitet ist.
Was können wir alle also tun?
Ich denke, wir müssen wieder etwas besonnener werden und wie damals Dr. Google, nun Dr. Facebook in die Schranken weisen. Wir müssen verstehen, dass wir nicht jedem, der in einer Facebook-Gruppe Mitglied ist, unsere Gesundheit anvertrauen dürfen. Wir müssen auch wieder beginnen Ärztinnen und Ärzten Vertrauen entgegen zu bringen. Gleichzeitig müssen viele Ärzte von ihrem hohen Ross heruntersteigen, sich Zeit nehmen und den Patienten Dinge erklären. Und zwar so, dass sie verstanden werden. Die Politik ist gefordert, unser Gesundheitssystem so zu gestalten, dass Ärzte sich diese dringend benötigte Zeit mit dem Patienten auch nehmen können, d.h. diese auch bezahlt bekommen. Es ist also viel zu tun. Was wir aber alle sofort tun können: Aufhören medizinische Laborergebnisse, Tests oder ärztliche Anweisungen in Facebookgruppen zur Diskussion zu stellen. Wir tun uns selbst damit nichts Gutes.